HUBERT LOBNIG
Ein Freiraum als Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft, Kunstgeschichte 6 aktuell 1/12


Das Turnertempel-Mahnmal in Wien XV

Rudolfsheim-Fünfhaus gehört zu den weniger attraktiven Bezirken Wiens, etwa ein Drittel seiner BewohnerInnen besitzt migrantischen Hintergrund. Noch 2001 wurden bei einer Gebäudezählung 20 Prozent der Wohnungen als Substandard klassifiziert. Die Bebauungsstruktur ist höchst unterschiedlich, nur wenige Häuser erweisensich als erhaltungswuürdig und fallen stetig der forcierten Stadterneuerung zum Opfer. Geteilt durch die Westbahnlinie ist der südliche Teil dicht besiedelt und durch enge Gassen geprägt, an größeren Plätzen oder gar Parkanlagen mangelt es. Der neu eröffnete, überdimensionierte Westbahnhof (Kunstgeschichte aktuell berichtete) steht für einen Bezirk im Umbruch. Die Straßenprostitution wurde zurückgedrängt, die Mieten steigen, die Gentrifizierung geht um. Noch leben hier Menschen aus etwa 40 Nationen, unzählige Sprachen sind zu vernehmen. Allein Fünfhaus beherbergt neben sechs katholischen und einer evangelische Kirche zahlreiche islamische Gebetshäuser sowie Österreichs größten buddhistischen Tempel. Ohne die nationalsozialistische Zerstörungsgewalt gäbe es zudem noch zwei Synagogen, die Storchenschul und den Turnertempel. Dass es hier einmal eine große und vitale jüdische Gemeinde gab, blieb lange Jahre kollektiv vergessen. Allen voran ist die Erinnerung daran dem Engagement Judith Pühringers und Michael Koflers vom Verein Coobra zu verdanken, welche durch die Lektüre von Inge Rowhani-Ennemosers „Nachrichten vom Verlust der Welt“ auf die Vergangenheit des Hauses Herklotzgasse 21 aufmerksam wurden, in dem just ihre Büroräume eingerichtet sind. Einst beherbergte es jüdische Vereine, unter anderem einen Hort, einen Turnverein und soziale Versorgungsräume und bot Platz für zahlreiche Treffen, Aktivitäten und Veranstaltungen für alle Altersklassen. Den ,Zu-Fall‘ als solchen erkannt, stellten sich Pühringer und Kofler gemeinsam mit dem Kunsthistoriker Georg Traska die Sichtbarmachung einer Gemeinde zur Aufgabe, an die weder im Haus noch in der Nachbarschaft in irgendeiner Form verwiesen wurde. Nach intensiven Recherchetätigkeiten und einer Reise nach Israel, um mit ehemaligen BewohnerInnen des Viertels in Kontakt zu treten, konnte 2008 ein beruührendes Biografieprojekt über die Erinnerungen der Gemeindemitglieder präsentiert werden. Neben einer Ausstellung mit begleitender Publikation 1 wurde ein mehrsprachiger Audioguide für relevante Stationen juüdischen Lebens kreiert, der die ZuhörerInnen auch zum zerstörten Turnertempel Ecke Turnergasse/Dingelstedtgasse führt. Nach dem Stadttempel in der Seitenstettengasse 4 und dem Leopoldstädter Tempel war der 1871/72 errichtete, von Karl König entworfene Turnertempel die drittgrößte Synagoge Wiens und das religiöse Zentrum der Kultusgemeinden Fünf - bzw. Sechshaus. Wie alle freistehenden Synagogen wurde er in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 in Brand gesteckt und völlig zerstört. Nach der Arisierung des Grundstückes ließ ein nationalsozialistischer Transportunternehmer eine Garage errichten, die in den folgenden Jahrzehnten sukzessive ausgebaut wurde. Wie so oft forderte 1945 auch in dieser Angelegenheit keinen Bruch. 1973 ging die mittlerweile erweiterte Liegenschaft in das Eigentum der Stadt über, die einen sozialen Wohnbau in Auftrag gab. Da die Baulinie dafür zurückversetzt wurde, blieb die Grundfläche der ehemaligen Synagoge frei und wurde in eine Grünfläche umgewidmet. Zwar wurde in den 1980er-Jahren eine Gedenktafel am Gemeindebau installiert, doch blieb sie ob ihrer Positionierung an der Seitenwand des zurückversetzten Eingangs von PassantInnen unbemerkt. Erst durch Aufstellung einer Hinweistafel für den Audioguide wurde der zwischenzeitlich eingezäunte und somit unbenutzbar gemachte Beserlpark an der Straßenecke als Ort mit bedeutender Vergangenheit markiert. Dass das Grundstück nicht verbaut wurde, scheint sich lediglich bebauungsplanerischen Überlegungen zu verdanken, denn im Bauakt wurden keinerlei Hinweise auf die Geschichte des Ortes gefunden. Im Zuge des Projekts Herklotzgasse 21 entstand bald der Gedanke, den Platz zu reaktivieren, was auch im Sinne von Bezirksvertretung sowie Gebietsbetreuung XV war. Die Ausschreibung für eine Gedenkstätte erfolgte Anfang 2010 durch KÖR (Kunst im öffentlichen Raum Wien) in Kooperation mit dem Stadtgartenamt. Da der Platz zugleich den AnrainerInnen als Freiraum dienen sollte, richtete sich der Wettbewerb gleichsam an KünstlerInnen wie LandschaftsarchitektInnen, um eine Realisierung zu gewährleisten. Iris Andraschek und Hubert Lobnig hatten bereits Erfahrung mit Platzgestaltungen, wie etwa „Der Muse reicht’s“ im Arkadenhof der Universität Wien oder die Teppichmosaike am Campus der Donauuniversität Krems. Im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit der Archäologie des Tempels stießen sie auf eine zynische Aufforderung der Stadt an die Israelitische Kultusgemeinde, datiert im Dezember 1939: Da sie eine Gefährdung darstellen, müssten die Reste des Tempels auf eigene Kosten innerhalb eines Jahres abgetragen werden. Wie die KünstlerInnen berichten, hatten sie fortan die räumliche Struktur eines ausgebrannten, eingestürzten Dachstuhls für die Ausgestaltung vor Augen. Gemeinsam mit dem Architekturteam Maria Auböck und János Kárász, die ebenfalls schon Freiflächen realisiert hatten, begaben sie sich auf die „Suche nach einer reflexiven Archäologie“ und erhielten den Zuschlag für die Umsetzung. Der erste Eindruck kann irritierend wirken, da sich der Platz deutlich von seiner Umgebung abhebt. Anthrazit eingefärbte Betonbalken sind teils plan in den Boden eingelassen, teils ragen sie bis 45 cm über Platzniveau und bilden über dem Schottergrund eine unregelmäßige Netzstruktur. Sie erschließen den Platz grafisch, dienen als Möblierung, schaffen Räume. Als Verriegelungen ermöglichen sie nur bestimmte Bewegungen. Auf die Verwendung von Holz wurde bewusst verzichtet, stattdessen soll der Verbundstoff eine Art Versteinerung transportieren. Die sechs akkurat in einer Linie gepflanzten Lindenbäume wurden in der Gestaltung berücksichtigt, wodurch das Platzniveau nicht an das des Gehwegs angeglichen werden konnte. Die Überwindung ist über zwei breite, asymmetrisch verzogene Stufen aus sandgestrahltem Gussbeton möglich. Die glatten Stege werden durch die integrierten Balken und deren Holzmaserung gestört. Ein barrierefreier Zugang mittels Rampe wird an der Feuermauer zum Nachbarhaus gewährleistet. Als Gegenbilder fungieren in den Boden eingepasste Mosaike, um die Kraft der Balkenstruktur zu schwächen. Ausgeführt als Trompe l’oeil bilden sie mit den Früchten, Pflanzenteilen und Blättern aus dem Repertoire der Tora scheinbare archäologische Funde – eindeutig eine Referenz an das Illusionsmotiv  σάρωτος οίκος (Das ungefegte Haus) – doch finden sich dazwischen auch zerknülltes Papier, eine zerdrückte Getränkedose und ausgespuckte Kerne. Eine mehrsprachige Tafel mit Informationen zum ehemaligen Standort der Synagoge und Genese des Mahnmals kann erst nach Erschließung des Platzes eingesehen werden. Sie wurde absichtlich an der hinteren Ecke aufgestellt, um den Ort erstmals für sich selbst sprechen zu lassen. Die Vorbereitung am Gehsteig erfolgt hingegen durch eines der Mosaike. Eine Aufforderung zum Betreten und Verweilen. Neben den Bäumen dient eine Hainbuchenhecke als vegetabile Fassung des Platzes, gemeinsam sollen sie in den warmen Monaten den Grünimpuls liefern. Auf eine Rasenbepflanzung wurde zugunsten der Betretbarkeit verzichtet, da solche Zonen allzu oft eingezäunt und abgeschottet werden. Während viele Grundstücke ehemaliger jüdischer Gebetshäuser verbaut wurden, blieb dieses durch glückliche Fügung frei und erlaubt eine großzügige Platzgestaltung für das Mahnmal. Nicht nur durch seine Ausbreitung unterscheidet es sich von anderen Holocaust-Denkmälern, wie etwa dem Mahnmal anstelle der Großen Gemeindesynagoge in Leipzig, auf dessen Grundriss Anna Dilengite und Sebastian Helm 140 Bronzestühle in Reih’ und Glied installierten. Der Gedenkort für den Turnertempel besitzt hingegen Aufenthaltsqualität. Zum einen wurde ein Ort des Erinnerns geschaffen, der von der Geschichte wie Zerstörung der Synagoge und seiner Bedeutung für die ehemaligen jüdischen BewohnerInnen der Gemeinde erzählt, zum anderen soll der Platz wieder ein Ort der Gemeinschaft für heutige wie künftige AnrainerInnen unterschiedlicher Herkunft und Religion werden. Zur feierlichen Eröffnung 2 am 10. November 2011 sprachen unter anderem Paul Chaim Eisenberg, Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, und Moshe Jahoda, der in dem „Dreieck“ rund um die Herklotzgasse 21, die Storchenschul sowie den Turnertempel seine Kindheit verbrachte. Im Zuge der Pogrome sah er, wie so viele andere Mitglieder der Gemeinde, den Turnertempel brennen, doch es sollten Jahrzehnte vergehen, bis engagierte BürgerInnen diesen Erinnerungen endlich Gehör verschaffen sollten. Ein Ort wurde geöffnet, jetzt wartet er auf Benutzung. Veranstaltungen wie Führungen oder Streetwork - Aktionen sind geplant, waren jedoch zu Redaktionsschluss noch nicht terminiert. Ob sich die Gedenkstätte zu einem Ort der Begegnung entwickelt, wird sich erst zeigen. Die ProtagonistInnen sind indes zuversichtlich.

Petra Schönfelder, Studierende der Kunstgeschichte an der Universität Wien

1 J. Pühringer/M. Kofler/G. Traska, Das Dreieck meiner

Kindheit. Eine jüdische Vorstadtgemeinde, Wien 2008.

2 Das Freie Radio in Wien ORANGE 94.0 stellt einen Mitschnitt der Eröffnungsfeier online zur Verfügung (http://cba.fro.at/51955).

Quellen und weiterführende Links:

www.herklotzgasse21.at

www.koer.or.at/turnertempel

www.hubertlobnig.com

www.coobra.at


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